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Britisches Unterhaus lehnt Johnsons Antrag auf Neuwahlen ab

10.09.2019 - 17:14
Johnson will notfalls einen No-Deal-Brexit© APA (AFP)Johnson will notfalls einen No-Deal-Brexit

Nach dem gescheiterten Neuwahlantrag von Premier Boris Johnson können die Briten frühestens im November über ein neues Parlament abstimmen. Das Unterhaus, das inzwischen in einer fünfwöchigen Zwangspause ist, verwehrte Johnson in der Nacht auf Dienstag erneut die für eine vorgezogene Wahl nötige Zweidrittelmehrheit.

Beobachter sehen Johnson dennoch bereits im Wahlkampfmodus. Nur wenige Stunden nach einer dramatischen Nacht im Parlament leitete er am Dienstag eine Kabinettssitzung im Regierungssitz Downing Street. Dabei ging es einem Bericht zufolge um innenpolitische Themen, bei denen Johnson bereits viel Geld versprochen hat, etwa den nationalen Gesundheitsdienst (NHS).

Die Opposition ist grundsätzlich für eine Neuwahl, will aber sicherstellen, dass es keinen No-Deal-Brexit gibt. Labour-Chef Jeremy Corbyn schien sich ebenfalls auf einen baldigen Urnengang einzustellen. Er kündigte in einer Rede vor Gewerkschaftern ein Ministerium für Arbeitnehmerrechte an, das für eine bessere Bezahlung, mehr Jobsicherheit und größere Mitspracherechte sorgen soll. "Die nächste Labour-Regierung wird die größte Ausweitung der Arbeitnehmerrechte einleiten, die unser Land je gesehen hat", sagte er.

Während Labour auf soziale Themen setzt, wollen sich die Liberaldemokraten mit einem strikten Pro-EU-Kurs profilieren. Parteichefin Jo Swinson kündigte an, dass sich ihre Partei im Wahlprogramm auf eine Rücknahme des Austrittsantrags festlegen werde. "Ich freue mich darauf, es bei einer Wahl mit Boris Johnson aufzunehmen und bin zuversichtlich, dass wir deutlich zulegen werden", sagte sie.

Johnson will sich Spekulationen zufolge bei einer Parlamentswahl als Verfechter des im Referendum zum Ausdruck gebrachten Volkswillens inszenieren, der gegen das proeuropäische Establishment kämpft.

Johnsons Chefberater Dominic Cummings empfahl wartenden Journalisten in der Früh vor seinem Haus in der britischen Hauptstadt: "Kommen Sie aus London heraus und sprechen mit Menschen, die keine reichen Brexit-Gegner sind." Der ehemalige Leiter der Brexit-Kampagne "Vote Leave" aus dem Referendumswahlkampf 2016 gilt als Kopf hinter der kompromisslosen Brexit-Strategie des Regierungschefs. 

Ex-Premier Tony Blair warnte davor, die Parlamentswahl zu einer Art Brexit-Abstimmung zu machen. Es könnte nämlich passieren, dass Johnson einen relativen Wahlsieg als Mandat für einen ungeregelten Brexit deute, sagte er am Dienstag in einer Rede in London. Stattdessen soll es ein zweites Referendum geben.

Eine vorgezogene Neuwahl kann frühestens im November stattfinden, weil während der fünfwöchigen Zwangspause kein entsprechender Beschluss des Parlaments gefasst werden kann. Zwischen Auflösung des Unterhauses und dem Wahltermin müssen zudem 25 Werktage liegen.

Bei der Abschlusszeremonie des Parlaments war es in der Nacht auf Dienstag zu tumultartigen Szenen gekommen: Abgeordnete der Opposition hielten Protestnoten mit der Aufschrift "zum Schweigen gebracht" hoch und skandierten "Schande über euch" in Richtung der Regierungsfraktion. Parlamentspräsident John Bercow sprach von einem "Akt exekutiver Ermächtigung". Corbyn warf dem Premier vor, er schließe das Parlament, um keine Rechenschaft mehr ablegen zu müssen. Die Abgeordneten sollen erst am 14. Oktober wieder zusammentreten. Gegen die Zwangspause sind noch mehrere Gerichtsverfahren anhängig. Am 17. September befasst sich das Höchstgericht mit der Causa.

Johnsons Antrag auf eine vorgezogene Neuwahl hatte die nötige Zweidrittelmehrheit im Unterhaus mit 293 von 650 Stimmen zuvor klar verfehlt. Es war bereits der zweite Anlauf. Die Abgeordneten stimmten zudem unter anderem für die Herausgabe von Regierungsdokumenten und interner Kommunikation zur Planung für einen No-Deal-Brexit und zu der von Johnson auferlegten Zwangspause. Für Johnson war es die sechste Niederlage im Unterhaus binnen sechs Tagen. Gewonnen hat er bisher keine einzige.

Das am Montag in Kraft getretene Gesetz zwingt den Premierminister, eine Brexit-Verschiebung zu beantragen, sollte nicht rechtzeitig vor dem geplanten Austrittsdatum am 31. Oktober ein Abkommen mit der EU unter Dach und Fach sein. Johnson lehnt das jedoch strikt ab. "Diese Regierung wird keine weitere Verzögerung des Brexits zulassen", sagte er in der Nacht auf Dienstag. Am Dienstag zeigte er sich zuversichtlich, dass ein Deal gelingen könne, doch brauche es dafür "sehr viel harte Arbeit".

Wie Johnson das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit umgehen will, ist unklar. Eine Möglichkeit wäre ein Rücktritt, was Neuwahlen auslösen würde. Einem Bericht zufolge kündigte Johnson bei der Kabinettssitzung am Montag an, er werde seine Vorgehensweise erst publik machen, wenn mehr Zeit verstrichen ist.

Johnson fordert von der EU, dass der sogenannte Backstop aus dem EU-Austrittsabkommen gestrichen wird. Die von Brüssel und Dublin geforderte Garantieklausel sieht vor, dass Kontrollposten an der Grenze zu Nordirland nach dem Brexit vermieden werden. Denn das könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder schüren. Bis eine andere Lösung gefunden wird, sollen für Nordirland weiter einige Regeln des Binnenmarkts gelten und ganz Großbritannien in der Europäischen Zollunion bleiben. Das lehnt Johnson jedoch strikt ab. Er sieht im Backstop ein "Instrument der Einkerkerung" Großbritanniens im Orbit der EU.

Wie wackelig der Frieden in Nordirland ist, wurde am Montagabend deutlich, als es in der Grenzstadt Londonderry zu heftigen Ausschreitungen kam. Dutzende Polizisten seien von einer Menschenmenge mit etwa 40 Molotow-Cocktails und anderen Wurfgeschossen angegriffen worden, teilte die Polizei mit. Zu der Straßenschlacht kam es, als etwa 80 Polizisten ein Wohnviertel nach Baumaterial für Bomben durchsuchen wollten. Mindestens zwei Jugendliche zogen sich Brandverletzungen zu, die Polizisten erlitten keinen Schaden. Mehrere Familien mussten vorübergehend in Sicherheit gebracht werden, wie britische Medien am Dienstag berichteten.

(APA/ag.)

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