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"Zirkumzision 'beschneidet' Sexualität"

SN

relevant Redaktion

"Durch Beschneidung wird Sexualität beschnitten"

10.08.2012
Gesundheitspsychologin Petra Schweiger im relevant-Interview über die Risiken und Nebenwirkungen von Beschneidungen.

Seit Wochen wird von Religionsvertretern und Ärzten die Frage diskutiert, ob das Beschneidungsritual für männliche Säuglinge bzw. Kinder verboten werden soll. (Siehe dazu auch unser Thema Beschneidung: Recht vs Recht.) Wer darauf eine Antwort sucht, kommt notgedrungen an den Punkt zu fragen: Sind in diesem Fall die Menschenrechte bedroht oder die Religionsfreiheit?

Aus Anlass dieser zweifelsfrei heiklen Debatte sprach relevant-Journalist Manuel Simbürger mit Petra Schweiger, Gesundheitspsychologin und Klinische Psychologin in Salzburg, die mit ihrem Gastkommentar zu diesem Thema in der Tageszeitung Der Standard kürzlich für einiges Aufsehen sorgte.


relevant: Die Beschneidung wird in bestimmten Religionen schon seit Jahrhunderten durchgeführt. Wäre es nicht ein harter Eingriff, wenn dieses Ritual plötzlich verboten würde?

Petra Schweiger: Die Beschneidung der männlichen Vorhaut wird auch aus nicht-religiösen Gründen weltweit praktiziert. In den USA wurden beispielsweise in den 1980er-Jahren 65 Prozent aller männlichen Säuglinge beschnitten – aus "hygienischen" oder traditionellen Gründen, weil der Vater ebenfalls beschnitten war.

Wenn ein Ritual "seit Jahrhunderten praktiziert wird", ist das noch lange kein Qualitätskriterium – genau das Gegenteil kann zutreffen, nämlich dass es um besonders unreflektierte Handlungen geht, die meist repressiv sind. Entwicklungen von Gesellschaften zeichnen sich im Allgemeinen dadurch aus, dass "Altes" überwunden wird und Platz für "Neues" entsteht. Und: die Freiheit religiöser Bräuche hört definitiv dort auf, wo es um Verletzungen individueller Rechte – insbesondere auch der sexuellen Rechte – von Menschen geht.


"Recht auf Unversehrtheit wird verletzt"

Wird durch die Beschneidungs-Debatte bzw. ein etwaiges Verbot der Beschneidung die Religionsfreiheit bedroht?

Die Debatte um die Vorhaut-Beschneidung an gesunden, minderjährigen Buben ist eine Diskussion, die nun auch im deutschsprachigen Raum breiter in die Öffentlichkeit gekommen ist. In den USA, den Niederlanden oder in Israel beispielsweise gibt es schon seit längerem kritische Stimmen, die aufzeigen, dass es sich dabei um Körperverletzung und eine Verletzung des Rechtes auf Unversehrtheit handelt, bei der es medizinische, sexuelle und psychische Folgeprobleme geben kann.

Jedem mündigen Mann steht es frei, sich als Bindungsritual an eine Religionsgemeinschaft die Vorhaut amputieren zu lassen, aber bitte Finger weg von den gesunden Sexualorganen minderjähriger Buben und Mädchen. Durch diese Forderung wird niemand bedroht, dafür werden viele geschützt!


"Warum wird so wenig darüber gesprochen?"

In Ihrem Gastkommentar für die Tageszeitung "Der Standard" bezeichnen Sie die Sexualität als "Kern der Sache". Können Sie das näher erklären?

Es gibt leider eine sehr weit verbreitete Unkenntnis gegenüber grundlegenden Fakten zur Beschneidung: Viele Menschen wissen nicht, dass hochsensibles Gewebe entfernt und die Sexualität im wahrsten Sinne des Wortes "beschnitten" wird.

Die Frage ist: Warum wird so wenig darüber gesprochen? Anatomisch betrachtet verliert "man" mit der Vorhaut ein "Organ" mit extrem hoher Nervendichte, welches die sexuelle Erregbarkeit fördert und für Feuchtigkeit sorgt. Das macht die Selbstbefriedigung lustvoll und spielt beim Geschlechtsverkehr eine wichtige Rolle. Die Vorhaut erleichtert die Penetration.

Untersuchungen zeigen, dass die Beschneidung auch einen negativen Einfluss auf das sexuelle Erleben der Partnerin haben kann - mehr "Reibung" zwischen Penishaut und Vaginalschleimhaut zum Beispiel - und beschnittene Männer häufiger an Empfindsamkeitsproblemen und Orgasmus-Schwierigkeiten leiden. Das sind die sexuellen Folgen dieses Eingriffs, die stark tabuisiert sind.

Ist die Beschneidung von Buben mit der Beschneidung von Mädchen gleichzusetzen?

Es gibt bei der Beschneidung von Mädchen unterschiedliche Graduierungen – von der Beschneidung der Klitoris-Vorhaut bis zur vollständigen Verstümmelung des äußeren Teils der Klitoris und der inneren sowie äußeren Venuslippen. Die Beschneidung der männlichen Vorhaut ist in etwa mit dem ersten Grad der weiblichen Genitalverstümmelung von Mädchen vergleichbar. Beides sind einschneidende, irreversible Eingriffe an gesunden Sexualorganen von Kindern, welche erogene Zonen dauerhaft beschädigen. Sowohl FMG (Female Genital Mutilation, Anm.) als auch MGM (Male Genital Mutilation, Anm.) sind schmerzhaft und können zu Komplikationen führen. Beide Eingriffe erfolgen auf Verlangen der Eltern und "scheinen" gerechtfertigt aufgrund von Religion, Tradition oder Bräuchen. In beiden Fällen werden/wurden die Auswirkungen über lange Zeit hinwegbagatellisiert.

Mittlerweile besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens, der die weibliche Genitalverstümmelung entschieden ablehnt, während die männliche Vorhautbeschneidung nun erstmals nach dem Kölner Urteil breiter in der deutschsprachigen Öffentlichkeit diskutiert wird.


"Männer sprechen nicht darüber"

Welche psychischen Probleme können bei beschnittenen Männern auftreten?

Die Beschneidung wird von Betroffenen unterschiedlich wahrgenommen - einige Männer haben in der Folge keine Probleme, manche sind dadurch stärker belastet als andere. Oft sprechen Männer nicht darüber. Das Beschneidungsritual selbst kann für Buben traumatisierend sein und Ängste, Gefühle des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht auslösen. Dies kann zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen und Langzeitfolgen für das Selbstwertgefühl haben. Nach dem operativen Eingriff werden plötzlich Veränderungen am Genital selbst erlebt. Das Fehlen der Vorhaut führt zu einer trockeneren Eichel und zu einem gewissen Sensibilitätsverlust.

Als Reaktionen auf den unwiederbringlichen Verlust eines Körperteils können psychische Abwehrmechanismen aktiv werden: z.B. ein Bagatellisieren bzw. ein Verleugnen des Verlustes, weil eine bewusste Auseinandersetzung mit der dauerhaften Beeinträchtigung viel zu schmerzhaft ist. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Geschehenen ist auch an gesellschaftliche Rahmenbedingungen geknüpft. Erst in den letzten Jahren formieren sich Betroffene im In- und Ausland und engagieren sich für Aufklärung und ein gesetzliches Schutzalter. Als sehr beeindruckendes Beispiel sei hier der Dokumentarfilm "Mom, why did you circumcise me?" erwähnt.


"Waschen statt amputieren"

Welches medizinische Risiko birgt eine Beschneidung? Und stimmt es tatsächlich, dass es für die Hygiene gut ist, den Penis zu beschneiden?

Ich beziehe mich hier auf eine Expertise von Dr. Florian Wimpissinger (Facharzt für Urologie, Anm.), der die Zirkumzision (Beschneidung, Anm.) ohne Patienteneinwilligung als Körperverletzung beschreibt und erklärt, dass dieser Eingriff ohne Anästhesie sehr schmerzhaft ist – unabhängig von Technik und Dauer der Beschneidung. Dies wurde in Studien insbesondere auch für kleinste Kinder nachgewiesen. Bei Neugeborenen fand man auch Tage und Wochen nach einer Zirkumzision ohne Narkose ein verändertes Trinkverhalten und Auffälligkeiten in der Mutter-Kind-Beziehung.

Die Beschneidung kann Nebenwirkungen oder Komplikationen nach sich ziehen. Postoperative Blutung, Wundheilungsstörungen/Infektionen oder eine Enge der Harnröhrenmündung (auch Jahre nach dem Eingriff) sind nur einige der möglichen Folgen.

Die Geschichte mit der "Hygiene" ist rascher erklärt: duschen und/oder waschen statt amputieren!

Lassen wir die Medizin mal kurz außer Acht: Warum können Sie auch aus religiöser Sicht der Beschneidung nichts abgewinnen? Schließlich ist die religiöse Erziehung Teil des Erziehungsrechts ...

Es geht in der aktuellen Diskussion nicht um eine Einschränkung der Religionsfreiheit oder der religiösen "Erziehung", sondern um den Schutz minderjähriger Kinder und um Entwicklungen innerhalb einer modernen, säkularen Gesellschaft.

Die Freiheit der Ausübung von Ritualen, ganz egal ob sie religiös motiviert sind oder kulturelle Hintergründe haben, hat dort ein Ende, wo individuelle Menschenrechte verletzt werden, insbesondere das Recht auf Freiheit und Unversehrtheit und auch das Recht auf Schutz vor traditionellen, gesundheitsschädlichen Praktiken.


"Informationspolitik statt Bestrafung"

Soll auch in Österreich die Beschneidung unter Strafe gestellt werden? Wäre es für Sie vorstellbar, wie Rechtsexperte Dr. Helmut Fuchs in seinem Gastkommentar für die Tageszeitung "Die Presse" andeutet, dass für das Judentum und den Islam eine Beschneidung straffrei sein könnte, sofern der Eingriff unter medizinisch einwandfreien Bedingungen stattfindet?

Bestrafung wird mit Sicherheit nicht die Lösung des Problems bewirken, eher eine nachhaltige Informationspolitik über die Hintergründe und Folgen von beschnittener Sexualität. Sinnvoll wäre sicher eine Schutzbestimmung – ähnlich wie bei der neuen Regelung die Schönheitsoperationen betreffend. An Mädchen und Burschen unter 16 Jahren werden diese Eingriffe künftig nicht mehr durchgeführt. Für Eingriffe an gesunden Sexualorganen sollte das Gleiche gelten.

Interview: Manuel Simbürger


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