Quelle: ZAMG

Interviews

Weitere Meinungsthemen

"Scharia im Privaten - eine Katastrophe"

Hans Rauscher

relevant Redaktion

Rauscher: "Scharia im Privaten - eine Katastrophe"

25.04.2012
Standard-Kolumnist Hans Rauscher im relevant-Interview über Antisemitismus, Minderheiten, den Fall Grass und patriarchalische Strukturen in der muslimischen Gesellschaft.

Der Fall Günter Grass wirft einmal mehr die Frage auf: Kann und darf man Israel kritisieren? Ja, schreibt dazu Hans Rauscher in seinem Buch "Israel, Europa und der neue Antisemitismus". Entscheidend jedoch, betont der Autor, sei das Wie. Ausgangspunkt für ein ausführliches Gespräch, zu dem sich relevant-Redakteurin Ute Rossbacher mit dem Kolumnisten der Tageszeitung Der Standard getroffen hat.


Herr Rauscher, Sie beschäftigen sich tiefgehend mit dem Thema Antisemitismus und seinen Folgen, unter anderem in Ihrem 2004 erschienenen Buch "Israel, Europa und der neue Antisemitismus". Was motiviert Sie persönlich, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?

Hans Rauscher: Ich hatte das unglaubliche Glück, in den frühen 60er-Jahren einen tollen Lehrer in Deutsch und Geschichte zu haben. Er war ein sogenannter "Innitzer-Gardist" gewesen, das heißt, er nahm im Oktober 1938 auf dem Stephansplatz an der einzigen Großdemonstration gegen die Nazis teil. Organisiert wurde sie von katholischen Studenten, die unter dem Ruf "Nur Christus ist unser Führer" den damaligen Erzbischof von Wien, Theodor Kardinal Innitzer, unterstützten. Der noch kurz davor den Anschluss begrüßt hatte und sich dann gegen die Nazis stellte. Mein Lehrer, der zu dieser Zeit 19 Jahre alt war, wurde verhaftet, zuerst in das KZ Dachau überstellt und dann nach Mauthausen, wo er nur knapp überlebte.

Er war eine tolle Persönlichkeit, vermittelte uns mit modernen didaktischen Mitteln – sprich Tondokumenten, Bildmaterial oder dem ersten Dokumentarfilm über die NS-Zeit "Mein Kampf" von Erwin Leiser – die Ereignisse jener Zeit. In dieser Dokumentation sahen wir zum ersten Mal die Leichenberge in den Konzentrationslagern.

Dazu müssen Sie sich vorstellen, wie die Situation Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre war: An den Universitäten und Schulen wimmelte es vor Nazis. Und auch an unserer Schule, dem Amerling-Gymnasium im sechsten Bezirk, war im Schnitt jeder Dritte einer. Es war die Zeit, als der Herr Karl im Fernsehen zu sehen war - ein prägendes Österreich-Erlebnis für mich. Hinzu kam, dass ich mich sehr für die Literatur der Jahrhundertwende interessierte - Karl Kraus, Arthur Schnitzler usw. und mit der Zeit draufgekommen bin: Hoppla, das waren ja jüdische Autoren. So fügte sich alles zusammen.

Im weiteren Verlauf des Studiums (Publizistik und Geschichte) und im Jahr 1968 haben wir schließlich mehr und mehr über die Ungeheuerlichkeiten erfahren. Das Rätsel, wie das passieren konnte und welches Ausmaß es angenommen hat, beschäftigt mich bis heute.


"Antisemitismus erfolgt in Wellen"

Der jüngste Antisemitismus-Bericht der deutschen Bundesregierung von November 2011 registriert einen latenten Antisemitismus bei rund 20 Prozent der Bevölkerung. Einer Umfrage aus dem Jahr 2005 zufolge finden nur 18 Prozent der ÖsterreicherInnen Juden "sympathisch". Warum halten sich diese Vorurteile Ihrer Meinung nach so hartnäckig, wenn man bedenkt, wie viele Menschen weder den Zweiten Weltkrieg persönlich erlebt haben noch Kinder der Kriegsgeneration sind?

Der Antisemitismus in Österreich erfolgt in Wellen. In den 60er-, zum Teil auch noch in den 70er-Jahren – trotz Kreisky, das ist die Schizophrenie – sagten noch zwischen 25 bis 30 Prozent, sie würden einem Juden nicht die Hand geben. 60 Prozent meinten, die Juden hätten zu viel Einfluss in der Wirtschaft. Obwohl es in Österreich praktisch keine gegeben hat.

Richtig empört hat mich übrigens in diesem Zusammenhang die österreichische Grundtragödie: dass und vor allem wie Bruno Kreisky den ehemaligen SS-Mann Friedrich Peter schützte. Man weiß heute, dass die Einheit, bei der er in Russland war, nichts anderes tat als Juden zu erschießen! Die Wahrscheinlichkeit, dass darunter auch Frauen und Kinder waren, ist daher sehr hoch.

Während der Waldheim-Ära, als ich stellvertretender Chefredakteur beim Kurier war, kamen pro Woche ein paar hundert Briefe – die meisten mit vollem Namen und Adresse, die offen oder versteckt antisemitisch waren. Von Uni-Professoren etwa, die forderten, es müsse jetzt endlich einmal Schluss sein mit der Vergangenheitsbewältigung - übrigens das Hauptargument in dieser Zeit. Da wurde deutlich, was im bürgerlichen Österreich, an das sich der Kurier richtete, noch vor sich ging.

Nach der Ära Waldheim jedoch begannen dann doch einige nachzudenken, vor allem die Jüngeren. Das war wie eine Katharsis. Danach gingen die Antisemitismus-Werte wieder nach unten, in den frühen 2000er-Jahren sind sie konstant relativ niedrig geblieben. Ganz verschwunden ist das Phänomen jedoch nie. Übrigens kaum wo in Europa.


"Hass auf die tüchtigen Minderheiten"

Woher rühren denn die Vorurteile gegen Juden?

Götz Aly zum Beispiel führt das darauf zurück, dass die Juden im 19. Jahrhundert einen massiven Emanzipationsschub erhalten haben, als sie plötzlich auf die höheren Schulen gehen konnten, was ja bis Mitte des 19. Jahrhunderts sehr schwierig war. Da sie aber das Volk des Buches sind und ihnen das Thora-Studium wichtig ist, hatten sie einen geistigen Vorsprung. Aly belegt das mit Zahlen aus Deutschland: Die Juden waren in den Schulen und an den Universitäten die Besten.

Damit sind sie an der Mehrheitsbevölkerung vorbeigezogen, die in einem hohen Ausmaß aus Ungebildeten bestand – und das ist nicht abwertend gemeint. Denn 1848 wurde die große Masse der Bauern von der Leibeigenschaft befreit: Sie waren frei, konnten damit aber nicht viel damit anfangen. Und die große Gruppe der städtischen Kleinbürger war auch unterdurchschnittlich gebildet. Das alles ist überprüfbar.

Wie wirkte sich diese Entwicklung aus?

Wenn man sich die großen Intelligenz-Berufe in Österreich bis 1938 ansieht – Ärzte, Rechtsanwälte etc. – die Juden waren die Besten ihres Fachs. Wenn man sich die Industrialisierung in Österreich ansieht, ist das eine jüdische Angelegenheit im späten 19. Jahrhundert. Die Förderung der Kunst – ein Anliegen des jüdischen Großbürgertums. Nicht zu vergessen: Die Wissenschaft ist zwischen der Mitte und dem Ende des 19. Jahrhunderts explodiert. Sehr viele Juden interessierten sich dafür und sind daher in diesem Bereich sehr stark vertreten gewesen. Sie waren die großen Aufsteiger in Zentraleuropa. Und das haben die anderen nicht vertragen. Der Erfolg weckte Neid und löste in weiterer Folge die Reaktion aus: "Da muss noch was anderes dahinterstecken."

Das ist ein großer Teil der Wahrheit. Und gilt nicht nur für Juden. Denn wer Teil einer Minderheit ist, muss sich doppelt anstrengen, zieht aber leicht Hass auf sich. Den Hass auf die Tüchtigen.

Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, dass es in jeder Gesellschaft eine autoritär-undemokratisch-rassistische und zu Gewaltlösungen neigende Schicht gibt, deren Anteil konstant bei 10 bis 15 Prozent liegt. Wenn diese aus einer historischen Konstellation heraus an die Macht oder in die Nähe der Macht kommt, dann passiert das Unglück. Die Lehre der Geschichte ist daher, dass diese unbelehrbaren und hasserfüllten Menschen nie ans Ruder dürfen.


"Versuch von Grass gründlichst misslungen"

Die Veröffentlichung des umstrittenen Günter-Grass-Textes "Was gesagt werden muss" hat die Debatte um das Phänomen des Antisemitismus – in diesem Fall in Deutschland - zusätzlich angeheizt. Welchen Eindruck hat sein "Gedicht" bei Ihnen hinterlassen?

Ich glaube, dass Grass mit seinem Text, und das ist seltsam bei einem großen Schriftsteller, nicht bewältigt hat, was er sagen wollte. Er wollte offenbar sagen: Bitte, haltet inne.

Was er möchte, ist etwas, was auch mich oder andere schon lange umtreibt: Man muss einen Weg finden, um sagen zu können: Die israelische Besetzung der Palästinensergebiete ist Unrecht, weil die Regierung den Menschen damit ihre Lebenschance nimmt und sie demütigt. Es grenzt auch manchmal an Kriegsverbrechen. Wenn das israelische Militär etwa eine Bombe in eine dicht besiedelte Gegend wirft, um einen Terroristenanführer zu erwischen, und dabei gehen 20 Kinder drauf.

Die Lage derzeit ist: Netanyahu hält am Status Quo fest, ein Palästinenser-Staat wird damit immer unwahrscheinlicher, dadurch entsteht zwangsweise ein gemeinsames Gebilde. Damit wird auch der jüdische Staat letztlich scheitern.

Es ist allerdings eine Kunst, das alles fair zu formulieren, wenn man im Hinterkopf behält, dass den Juden ein weit größeres Unrecht zugefügt worden ist. Trotzdem zu sagen: So geht's nicht - das ist unglaublich schwer. Günter Grass hat das versucht. Und es ist gründlichst misslungen. Denn zu schreiben, dass von Israel die größte Gefahr für den Weltfrieden ausgeht, weil es Atomwaffen hat ... da muss man auch fragen: Was ist dann mit Pakistan, den USA oder Russland oder Nordkorea? Weiters argumentiert er unredlich, wenn er falsche Fakten zitiert und von einem Erstschlag Israels gegen den Iran spricht.

In Ihrem Buch "Israel, Europa und der neue Antisemitismus" schreiben Sie sinngemäß: Man darf und kann Israel kritisieren. Entscheidend ist das Wie. Gibt es in Ihren Augen Menschen, denen es besonders gut gelingt, Kritik zu diesem Thema vorbildlich korrekt zu formulieren, ohne heikle Punkte zu verschweigen?

Ja, die gibt es. Thomas Friedman etwa, Kolumnist der New York Times, der lange in Israel und Beirut Korrespondent war. Weiters Richard Cohen von der New York Times oder diverse israelische Journalisten. Die beste Sprache von ihnen hat meiner Meinung nach aber Thomas Friedman gefunden, der sagt: Wenn es den Palästinensern gelingt, den Israelis ein Sicherheitsgefühl zu geben, hat Israel keinen Grund mehr, die Gebiete zu besetzen.

Bzw. fragt er, was ich mich auch schon vor Jahren fragte: Was wäre, wenn die Million Palästinenser geschlossen und friedlich auf die Mauer zumarschierten? Damals in der DDR hatten sich die Soldaten nicht mehr getraut zu schießen, als die Bürger das taten. Würde es die palästinensische Bevölkerung mit massenhaftem, gewaltlosem Widerstand versuchen, könnte Israel nicht mehr weitermachen wie bisher.


"Problem: junge Männer ohne Job und Frau"

In Ihrem Buch schreiben Sie auch von der Verlagerung des Nahost-Konflikts in Europas Zentren. Vor dem Hintergrund der Anschläge von Toulouse liest sich dieser Befund beklemmend aktuell. Wie bewerten Sie die Entwicklung seit Veröffentlichung Ihres Buches – z.B. in Frankreich, wo der Bevölkerungsanteil an Muslimen und Juden europaweit gesehen am höchsten ist?

Das größte Problem der Welt sind derzeit junge Männer, die keine Frauen und keinen Job haben. Darin liegt das größte Gewaltpotenzial. Das konzentriert sich in muslimischen Gesellschaften in den Mutterländern, aber auch in Europa. Das belegt unter anderem ein Unesco-Bericht von arabischen Autoren.

Es ist ein Faktum, dass arabische Länder ein geringes Entwicklungspotenzial haben. Ungeachtet, ob es jetzt an der Religion oder doch eher der Tradition liegt: Die mangelnde Entwicklung sorgt dafür, dass die Männer keine Jobs finden, die Tradition dafür, dass sie keine Frau vor der Ehe haben dürfen, und das fehlende Geld, dass sie nicht heiraten können.

Eine Studie über die Motive von Selbstmordattentätern zeigt: Selbstmordattentat ist eine "Karriere" für jene Männer, denen Beruf und sexuelle Beziehungen zu Frauen verwehrt bleiben. Sie jedoch sind überproportional in muslimischen Gesellschaften vertreten – in Rotterdam, Paris aber auch Wien. Wir haben es nicht verstanden, ihnen eine Chance zu geben - ein soziales Pulverfass. Und ein Beleg dafür, dass hier zwei Lebenskonzepte aufeinandertreffen, die miteinander nicht vereinbar sind: das westlich-europäische, das kaum noch von Religion bestimmt wird, und das migrantisch-muslimische, das noch stark von alten Werten geprägt ist. Mit Religion hat das aber alles erst in zweiter Instanz zu tun. Vielmehr mit patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen, die wir hier nicht dulden können. Ich halte es daher für eine Katastrophe, wenn wir die Scharia im privaten Bereich gelten lassen.

Ein Beispiel: Für eine Geschichte, die ich recherchierte, sprach ich mit dem Orient Express, eine NGO, die sich um Opfer von Zwangsverheiratungen kümmert. Bei ihnen melden sich im Schnitt 70 bis 100 Frauen pro Jahr. Das sind jetzt nur die, die sich wehren!

Wovon ich persönlich ausgehe: Die muslimische Bevölkerung wird sich innerhalb einer Generation assimilieren, das heißt, für die Jüngeren werden diese Wertvorstellungen zusehends unwichtiger. Sollte es dazu aber nicht kommen, dann haben wir noch bittere Zeiten vor uns ...

Interview: Ute Rossbacher


Buchtipp

Hans Rauscher Israel, Europa und der neue Antisemitismus - Molden Verlag


Home
Politik
Chronik
Wirtschaft
Sport
Kultur
Society
Life
Reise
Motor
Hightech