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"'Mein Kampf' - für die meisten ein Hassbuch"

Ute Rossbacher/relevant Media

relevant Redaktion

"'Mein Kampf' - für die meisten ein Hassbuch"

19.04.2012
Von seinen InterviewpartnerInnen will Julius Deutschbauer wissen, welches Buch sie (noch) nicht gelesen haben. Warum und mit welchen Ergebnissen, hat der Gründer der "Bibliothek ungelesener Bücher" relevant erzählt.

Performances, Tanz- und Theateraufführungen, Ausstellungen, Filmarbeiten, Bücher: Julius Deutschbauer ist vielbeschäftigt, viel unterwegs und laut Eigendefinition ein "langsamer Vielleser". In seiner "Bibliothek ungelesener Bücher", die er 1997 gründete und die sich seitdem auf Wanderschaft befindet, widmet sich der aus Klagenfurt stammende und in Wien lebende Künstler dagegen all jenen Büchern, die nicht oder noch nicht gelesen wurden. Zu jedem Exemplar von ihnen gibt es eine persönliche Geschichte, die Prominente wie Nicht-Prominente Deutschbauer erzählt haben.

Mittlerweile sind 15 Jahre und rund 600 Interviews ins Land gezogen. Zeit für ein Gespräch mit dem Teilzeit-Bibliothekar, der relevant-Redakteurin Ute Rossbacher Einblicke in seine Arbeit gewährte. Derer er nicht müde zu werden scheint, hat er erst kürzlich das entsprechende Gegenstück gegründet: die Videothek ungesehener Filme.


relevant: Am 23. April ist der Welttag des Buches, der die Kultur des Lesens würdigt. Mit Ihrer Bibliothek ungelesener Bücher erinnern Sie daran, dass es demgegenüber auch das Phänomen des - nicht immer beabsichtigten - Nicht-Lesens gibt. Wie hat sich dieses Projekt seit seiner Gründung im Jahr 1997 aus Ihrer Sicht entwickelt?

Deutschbauer: Die Bibliothek ungelesener Bücher ist keine Denunzierung der Nichtleser. In den letzten 15 Jahren habe ich circa 600 Interviews gemacht, die immer mit der Frage beginnen: "Welches Wetter haben wir heute?", gefolgt von "Welches Buch haben Sie noch nicht gelesen?".

Es soll kein Lamento sein, dass zu wenig gelesen wird. Denn jeder, auch der Vielleser, hat Bücher, die er nicht liest. Mich interessieren dabei eher die Geschichten darüber, die Menschen über Bücher, die sie noch nicht gelesen haben, erzählen - über Dinge, die sie nur vom Hörensagen kennen. Wie im wirklichen Leben, wenn man gefragt wird: "Hast du diesen Film schon gesehen?" Und man darüber fantasiert, was man darüber gehört oder gelesen hat. So entstehen interessantere Erzählungen, als wenn ich nach dem Lieblingsbuch fragen würde.

Was mich nach wie vor erstaunt, ist, dass es nach 15 Jahren und einer Fülle von Interviews immer noch Spaß macht, das zu machen.

Wie spielt sich das in der Regel ab: Treten die Menschen an Sie heran oder gehen Sie gezielt auf diese zu?

Meistens gehe ich gezielt auf Menschen zu. Häufig im Rahmen von Veranstaltungen in der Bibliothek ungelesener Bücher, die nomadisch herumzieht und gerade in Linz auf der Katholisch-Theologischen Universität Station macht. Diese Veranstaltungen nennen sich "Lesen und Handarbeiten im Zirkel". Da wird im Kreis zu vorbestimmten Themen – Stichwörtern wie "Gold" oder "Keller" - gelesen. Letzteres ist übrigens ein Wort, das in vielen immer noch Assoziationen zu Natascha Kampusch wachruft.

Dann gibt's eine Lesung mit geladenen Dichtern, beispielsweise Josef Winkler oder Ilse Aichinger, aber auch mit unbekannten AutorInnen. Und da mache ich dann meine Interview-Marathons. Aus dem Publikum treten Leute auf die Bühne, und die befrage ich dann zur Unterhaltung der Anwesenden – und meiner eigenen.


"Mehrheit hat schlechtes Gewissen"

Mit welchen Gefühlen trennen sich Menschen von ihren Büchern?

Trennen kann man in diesem Fall nicht sagen. Die Frage ist ja: "Welches Buch haben Sie noch nicht gelesen?" Es ist kein endgültiges Urteil, dass jemand es nie lesen wird. Ich nehme auch keine Bücher weg. Außer, man will das Buch wirklich los werden. Das ist dann wie ein Ablass – sprich, für den, der mir sein Buch überlässt, hat das in der Regel etwas Befreiendes. Ansonsten gilt: Ich kaufe die genannten nichtgelesenen Bücher an. Und zwar in der Häufigkeit, wie sie genannt werden.

Die Bibliothek ist dabei in der alphabetischen Folge der NichtleserInnen geordnet. So ist "Mann ohne Eigenschaften" einmal unter "A" wie H.C. Artmann zu finden, der es nannte, weil es ihm zu moralisierend war, oder unter "R" wie August Rugs. Ähnlich "Ulysseus", das zum Beispiel Rudolf Scholten nicht gelesen hat. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" findet sich unter "H" wie Gottfried Helnwein oder "M" Dominique Mentha.

Was die Gefühlsseite angeht: Fast 90 Prozent aller Interviews sind ein wenig von schlechtem Gewissen begleitet, nach dem Motto: "Ich wollte es ja eigentlich lesen" usw. Nur zehn Prozent der Interview-PartnerInnen sagen: "Ich habe das Buch nicht gelesen und will es auch nie lesen."

Ich hatte zum Beispiel kürzlich ein Interview in Salzburg mit Raimund Fellinger, dem Lektor von Peter Handke und Thomas Bernhard bei Suhrkamp. Er nannte "Vom Häuten der Zwiebel" von Günter Grass. Das ganze Gespräch bestand im Prinzip nur aus Hasstiraden gegenüber dem Autor. Das war ein so richtig schönes Interview, weil es einfach nur böse war! Noch dazu über einen Schriftsteller, den ich selber nicht besonders schätze. Das hat mir besonderes Vergnügen bereitet!


"Im Antlitz von 'Mein Kampf'"

In Ihrer Bibliothek ungelesener Bücher finden sich - nicht ganz überraschend - die Bibel, "Ulysses" von James Joyce, Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" oder Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften". Gibt es Titel, von denen Sie dagegen nicht erwartet hätten, dass sie eines Tages in Ihrer Sammlung landen?

Bei den Titeln, die sie gerade genannt haben, handelt es sich um die vier am häufigsten genannten nichtgelesenen Bücher. Auf Platz 5 folgt bereits "Mein Kampf" von Adolf Hitler, das in der Nennung gleichauf mit "Das Kapital" von Karl Marx liegt.

Bei "Mein Kampf" handelt es sich - vermute ich zumindest – für die meisten um ein Hassbuch oder bei einer gewissen Generation um ein Buch, das die Eltern noch in ihrer Bibliothek hatten. Oft ohne Einband, um es nach dem Krieg nicht so leicht in die Hände des "Feindes" fallen zu lassen, wie es heißt.

Der Einband wurde also abgerissen, verbrannt und der Kern des Buches versteckt aufbewahrt. Nachdem die Alliierten abgezogen waren, wanderte das Buch wieder in die Handbibliothek zurück. So gibt es in dieser Generation einige, die im Antlitz dieses Buches aufgewachsen sind. Deshalb wird es wohl auch so häufig genannt. Weil es doch beschäftigt, nie gelesen, aber immer vorhanden war. Ich nenne das eine Beschäftigung mit "Mein Kampf" auf zweiter Stufe.

Es anzukaufen ist natürlich etwas schwierig. Ich habe es auch nur einmal in der Bibliothek. Es würde mich stören, davon sechs Exemplare dort stehen zu haben – so oft wurde es nämlich bisher genannt.


"Gstrein ist kein guter Hasser"

Deckt sich die Liste der am häufigsten nichtgelesenen Bücher auch mit Ihrem persönlichen Leseverhalten?

Oft werde ich ja gegengefragt in den Interviews, ob ich das Buch gelesen hätte. Und als Bibliothekar sage ich dann natürlich immer "Nein". Ich kann ja nicht so tun, als hätte ich einen Vorsprung!

Wie würden Sie sich selbst als Leser charakterisieren?

Ich bin ein langsamer Vielleser.

Im Interview mit "Die Presse" vor zwei Jahren erwähnten Sie – auf die Frage nach Ihrem ungelesenen Buch – den Titel "Schlafes Bruder". Welche nichtgelesenen Bücher sind in der Zwischenzeit dazugekommen?

Das Buch "Die ganze Wahrheit" von Norbert Gstrein, in dem er mit dem Suhrkamp Verlag abrechnet. Ich habe etwas durch die Presse und das Radio davon mitbekommen und halte es für einen stilistischen Absturz des Herrn Gstrein, weil er kein guter Hasser ist. Fast wirkt es, als ob das Buch unlektoriert in den Handel gekommen ist. Irgendwie hat es mich fast angewidert.

Wo wird denn Ihre Wanderbibliothek von Linz aus weiterwandern?

Ab Herbst ist sie dann im Literaturhaus in Salzburg.

Wie läuft die Übersiedlung logistisch ab?

Das ist gar nicht so einfach. Da werden die Bücher und Regale eingepackt. Dazu die Möbel, sprich die Sitzecke. Es ist wie ein kleiner Möbeltransport mit vielen Bücherkisten. Leider nehmen die Bücher von den ständigen Umzügen doch ein wenig Schaden.


"In den USA dauern Gespräche länger"

Die weiteste Reise, die Ihre Wanderbibliothek angetreten ist, führte nach Philadelphia in den USA. Wie wurde das Projekt dort aufgenommen?

Für mich interessant war, dass die Interviews in Amerika ganz anders verliefen. Gewöhnlich dauern meine Befragungen ja 15 Minuten - ich versuche sie auch nicht länger zu machen, höchstens 20 Minuten. In den USA hingegen dauerten die Gespräche im Schnitt sieben bis acht Minuten länger. Nicht deshalb, weil die Amerikaner mehr zu sagen hätten, sondern weil sie eine andere Antworttechnik haben.

Zum Beispiel, als ich fragte: "Wer ist der Held Ihres ungelesenen Buches?" Zuerst einmal wiederholten die Befragten die Frage, dann lobten sie sie ("a very question") und dann erst antworteten sie - offenbar aus Ängstlichkeit. Und das war wirklich bei jedem Interview so!

Ich glaube fast, Amerikaner lernen das von Kindesbeinen an, nicht sofort auf Fragen zu antworten, sondern, dass sie Zeit gewinnen müssen. Das macht es mühsam, sich ihre Antworten anzuhören.

Wie würden Sie demgegenüber die Antworttechnik der Europäer charakterisieren?

Wenn jemand mit seiner Antwort zögert, dann drückt sich das in stummem Nachdenken aus. Oder die Menschen antworten spontan, sagen, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Insofern sind die Antworten nicht ganz so überlegt wie bei den Amerikanern. Dadurch aber wesentlich lustiger! Was vermutlich daran liegt, dass die Europäer nicht so viel Angst haben, in eine Falle zu tappen. Demgegenüber bringen einem die Amerikaner einen regelrechten "Misstrauensbonus" entgegen.

Interview: Ute Rossbacher


Veranstaltungstipp

Lesen und Handarbeiten im Zirkel zum Thema "Die Nase": Autorenlesung der "Bibliothek ungelesener Bücher" mit Philip Hautmann.

Zeit & Ort: Donnerstag, 19. April 2012, ab 18 Uhr im Bezirksmuseum Mariahilf, Mollardgasse 8 (Mezzanin), 1060 Wien. Buffet.


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