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Mit 75 Jahren, da fängt die Rente an ...

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Mit 75 Jahren, da fängt die Rente an ...

31.10.2012
In Europa wird es schon bald mehr Pensionisten als Beschäftigte geben. Auf diese Herausforderung will die EU mit ambitionierten Reformen reagieren. Die allerdings von einer Arbeitswelt ausgehen, die für die meisten noch nicht Realität ist.

Eine brisante Studie, die euronews zitiert, besagt: "In fünf Jahren wird es in Europa mehr Rentner als junge Arbeitnehmer geben." Vor dem Hintergrund, den Stefanie Bolzen und Florian Eder von Die Welt ausleuchten: "Schon heute leben in der EU rund 120 Millionen Rentner, das sind 24 Prozent der Gesamtbevölkerung." Gleichzeitig, betont Michael Diekmann, Vorstandsvorsitzender des deutschen Allianz-Konzerns im Gespräch mit Die Zeit: "Dieses Jahr sind in Europa zum ersten Mal mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden als neu dazugekommen."

 

75 Jahre - das neue 60

Daten, die die EU auf den Plan rufen. Die Union hat 2012 zum Jahr für aktives Altern ausgerufen und ihren Kommissar für Arbeit, Laszlo Anders, damit beauftragt, ein Konzept als Grundlage für alle Mitgliedsstaaten zur Angleichung ihrer Pensionssysteme zu erstellen.

Die Eckpunkte im Papier überraschen nicht: Das Pensionsantrittsalter soll angehoben und gleichzeitig für Frauen und Männer schrittweise angeglichen, der Zugang zur Frührente deutlich erschwert und finanzielle Anreize zur Förderung von Teilzeitbeschäftigung im Alter geschaffen werden.

Als Vorbild dient dabei - wieder einmal - Schweden, wo laut Die Welt die Beschäftigungsrate in der Altersgruppe von 55 bis 64 Jahren mit 70 Prozent europaweit am höchsten ist.

Umso erstaunlicher ist, dass es gerade der schwedische Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt war, der erst vor wenigen Monaten die Anhebung des Pensionsantrittsalters auf 75 Jahre forderte. Dass der 47-jährige Politiker theoretisch bereits in vier Jahren in den Ruhestand treten könnte, wie T-Online berichtet, macht die Aufregung um seinen gewagten Vorstoß nicht kleiner.

Die Vorbehalte der Beschäftigten gegen längere Arbeitszeiten kann Dennis J. Snower vom Kieler Institut für Weltwirtschaft durchaus nachvollziehen. In seinem Gastkommentar für das Handelsblatt resümiert er: "Das Renteneintrittsalter zu erhöhen ist unpopulär - denn die Menschen gehen davon aus, dass sie für unveränderte Rentenansprüche länger arbeiten sollen."

 

Hürden bei Umsetzung

Hinzu kommt: Die Umsetzung des ambitionierten Vorhabens der europäischen Regierungen birgt einige große Herausforderungen. Nur einer der Punkte: "Mit zunehmendem Alter sinken physische Widerstandsfähigkeit, Stressresistenz und Konzentrationsfähigkeit. Sich beschleunigende Arbeitsprozesse überfordern viele brutal", erklärt etwa Demografie-Experte Dietmar Blesky gegenüber Verena Kainrath von Der Standard.

Das bestätigt die Beamtin Marlies Weirich im Gespräch mit Bernd Kramer von Der Spiegel: "Ein 8-Stunden-Tag ist mit dem Alter nicht mehr so easy."

Davon weiß auch er buchstäblich ein Lied zu singen - Udo Jürgens, der mit Anfang 40 noch beschwingt "Mit 66 Jahren" intonierte, bekannte 73-jährig gegenüber Die Welt: "Man spürt das Alter ständig: beim Aufstehen mit steifen Gliedern, dem morgendlichen Blick in den Spiegel. Und wer das nicht zugibt, ist ein Heuchler."

So sehen das offenbar auch viele Unternehmen und kündigen älteren Arbeitnehmern, wenn sie zu "teuer" kommen oder ihnen die Erfüllung der wachsenden Anforderungen nicht mehr zugetraut wird. Die Arbeiterkammer Kärnten fordert gegenüber dem ORF daher eine Seniorenquote, denn: "Wenn knapp 50-Jährige ihren Job verlieren und jahrelang auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr Fuß fassen können, bringt es gar nichts, das gesetzliche Pensionsalter auf über 65 Jahre anzuheben."

Ein wunder Punkt, den auch deutlich jüngere Arbeitnehmer immer früher zu spüren bekommen. Allein bei Umfragen in Deutschland gaben 55 Prozent der Befragten an, dass man bereits ab 45 Jahren keinen Job mehr bekomme, wie Eva Quadbeck von der Rheinischen Post berichtet. Auch der amerikanische Regisseur John Wells, der in seinem Film "The Company Men" vom Leben dreier Führungskräfte erzählt, die von ihrem Unternehmen ausgemustert werden, bestätigt gegenüber der Huffington Post: "Ältere Arbeitnehmer - und das ist heute jeder über 45 - werden immer stärker aus dem Erwerbsleben gedrängt."

Nur ein schwacher Trost ist den Betroffenen vermutlich, wenn beispielsweise die deutsche Bundesregierung - mit prominenter Unterstützung von Uschi Glas oder Peter Maffay - im Gleichklang mit der EU 2012 zum Jahr gegen Altersdiskriminierung erklärt hat - nach dem Motto: "Im besten Alter. Immer." Und gleich die Gelegenheit nutzt, den Bürgern die Pensionsreform schmackhaft zu machen, derzufolge deutsche Arbeitnehmer künftig erst ab 67 Jahren bei vollen Bezügen in Pension gehen können.

 

Neue Arbeitswelt

Der Lösungsvorschlag eines Reinfeldt oder Andor, um sich überhaput solange im Erwerbsleben zu halten: rechtzeitig umzuschulen oder sich weiterzubilden, um mit 55+ in altersentsprechende Tätigkeitsfelder zu wechseln.

Dazu hat Pensionsexpertin Christine Mayrhuber vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) im Gespräch mit Rosa Winkler-Hermaden von Der Standard ein Anliegen: "Wichtig ist, dass es eine wirklich gute Betreuung seitens des AMS gibt, damit dieses Vorhaben gelingt. (...) Es geht hier um 6.000 bis 7.000 Menschen, die eine zusätzliche, neue Betreuung brauchen."

Thomas Pany von heise.de stellt sich hingegen die Frage, "ob die Wirtschaft in ausreichender Zahl Posten zur Verfügung stellen kann, um das Rentenalter generell auf 75 Jahre anzuheben."

Margit Schratzenstaller vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) wiederum bezweifelt gegenüber dem Ö1-Journal, dass die jüngsten Maßnahmen der Regierung tatsächlich ein Anreiz für Unternehmen seien, Frauen und Männer über 50 länger zu beschäftigen, denn: "Für ältere Arbeitnehmer muss jetzt drei Jahr länger für die Pensionsversicherung eingezahlt werden."

 

Armut im Alter

Derzeit gehen - auch mangels beruflicher Chancen - immer noch etliche Arbeitnehmer vorzeitig in Pension. Dabei allerdings, wie die ARD am Beispiel Deutschlands erläutert, in sechs von zehn Fällen mit Abschlägen. Das jedoch wirkt sich deutlich auf die wirtschaftliche Lage vieler Älterer aus. Wie finanzen.net berichtet, stiegen bei unseren deutschen Nachbarn die "Privatinsolvenzen in der Altersgruppe ab 60 Jahren im vergangenen Jahr um 6,7 Prozent."

In Hinblick darauf plädieren Experten laut Eva Quadbeck (Rheinische Post) für die Bekämpfung der Altersdiskriminierung auch abseits der Arbeitswelt: etwa, wenn es um Kreditanträge geht, die von Banken im Falle älterer Kunden nicht selten abgelehnt werden, bei Versicherungsleistungen oder Wohnungssuche.

Glaubt man Dietmar Besky, ist man diesbezüglich in Asien bereits weiter, wo der Markt grundsätzlich viel stärker auf ältere Kunden ausgerichtet sei. Auch, weil dort ältere Menschen höheres Ansehen als in westlichen Gesellschaften genießen. Gegenüber Verena Kainrath (Der Standard) betont der Demografie-Experte: "Es gilt als ehrenvoll, die Bedürfnisse der Senioren auszuloten."

 

Reformen - auch für Junge?

Wenn also die Reformbestrebungen der EU nicht nur darauf hinauslaufen, dass Beschäftigte länger in die Pensionskassa einzahlen als daraus Geld zu beziehen, sondern auch darauf, dass die Berufswelt den Bedürfnissen älterer Menschen gerechter wird, war es die politischen Anstrengungen sicherlich wert, weil davon letztlich auch jüngere Arbeitnehmer eines Tages profitieren.

Vorausgesetzt, dass diese in einem regulären Beschäftigungsverhältnis und entsprechend versichert sind, um sich überhaupt Rentenansprüche zu erarbeiten. Was aus dieser nicht kleinen Gruppe wird, die nicht in dieser komfortablen Lage ist, darauf hat die EU noch keine Antwort gefunden. Will sie das Thema Vorsorge konsequent angehen, hat sie also noch einiges vor sich.

Ute Rossbacher

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