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Rotifer: "In Großbritannien brodelt es"

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relevant Redaktion

Robert Rotifer: "In Großbritannien brodelt es"

15.12.2011
Der österreichische Journalist und Künstler über die sozialen Umbrüche und politischen Entwicklungen auf den Britischen Inseln.

Seit den 90er-Jahren lebt der FM4-Moderator, Journalist, Songwriter und Musiker Robert Rotifer in Großbritannien. Die aktuellen Entwicklungen in seiner Wahlheimat sind daher auch immer wieder Gegenstand seines Blogs. Dabei schöpft der gebürtige Wiener, der mit seiner Familie in Canterbury lebt, aus einem reichen Fundus: Nicht nur persönliche Eindrücke, sondern auch jene befreundeter Künstler fließen in seine Schilderungen und Erlebnisberichte ein.

relevant-Redakteurin Ute Rossbacher gegenüber geht Rotifer aus aktuellem Anlass auf die jüngsten politischen Ereignisse auf den Britischen Inseln ein und beleuchtet die Hintergründe der jüngsten Proteste und sozialen Spannungen; die - wie er erklärt - nicht nur in Großbritannien zunehmen.


relevant: Sie leben seit Anfang 1997 in Großbritannien. In jenem Jahr löste der Labour-Politiker Tony Blair nach 18 Jahren die Konservativen ab, es herrschte Aufbruchstimmung. Wie hat sich das Klima auf der Insel seit damals Ihrem Empfinden nach verändert?

Robert Rotifer: Natürlich enorm. Während damals viele davon ausgegangen sind, dass es mit ein bisschen Modernisierung dauerhaft bergauf gehen wird, herrscht jetzt rundum das Gefühl, zum Abstieg verdammt zu sein. Ich hatte aber schon damals den starken Eindruck, dass der Enthusiasmus für Tony Blair ein von der Bevölkerung nicht wirklich geteilter Medienhype war. Eines der Probleme der Labour-Regierung war, dass sie von Anfang an an ihren eigenen Spin geglaubt hat.

Der Unterschied zwischen Realität und öffentlicher Darstellung hat dem Vertrauen in die Politik generell geschadet, genauso wie Tony Blairs kriegerische Abenteuer. Die Desillusionierung war also schon vor der Finanzkrise stark spürbar. Das hat interessanterweise anfangs den Tories genützt, weil sie ihren Sparkurs als notwendige Rückkehr zur harten Realität statt den Luftschlössern der Blair-Ära verkaufen konnten.

In den letzten Wochen und Monaten hat sich dieses Narrativ der nationalen Anstrengung zur Beseitigung einer von Labour vererbten Verschuldung aber schon merklich abgenützt. Nicht zuletzt weil die Verschuldung nach den Sparmaßnahmen mit der steigenden Arbeitslosigkeit und den sinkenden Steuereinnahmen bloß noch schlimmer geworden ist. David Cameron hat eine Zeitlang versucht, mit der Idee einer auf Wohltätigkeit basierenden "Big Society" auf kostenfreie Art gute Stimmung zu machen. Das hat ihn aber bloß weltfremd aussehen lassen.


"Desperate Ablenkungspolitik"

Es scheint, als ob Großbritannien in den internationalen Medien schon lange nicht mehr so präsent war wie 2011 - Abhör-Skandal, Jugend-Krawalle, Londons Occupy-Bewegung oder der jüngste Konflikt der Regierung Cameron mit der EU. Welches dieser Ereignisse und Entwicklungen hat auf Sie persönlich den stärksten Eindruck gemacht?

Das gehört eigentlich alles zusammen. Ich glaube, dass der Aufruhr im Sommer, die Zeltstadt bei der St Paul's Cathedral und die Streiks an den Unis und im öffentlichen Dienst alle Teil derselben akuten Entfremdung zwischen Establishment und Restbevölkerung sind, wie sie derzeit ja weltweit zu beobachten ist. Auf der anderen Seite verliert das Establishment zunehmend die Nerven. Dazu gehört das Opfern der europäischen Beziehungen am Altar der deregulierten Finanzwirtschaft genauso wie Rupert und James Murdochs völlig misslungene Verteidigungsstrategie im Abhörskandal.

Murdochs Sun als die größte Tageszeitung schreibt ja beharrlich nur mehr Titelstorys über Talenteshows, egal was gleichzeitig in der echten Welt passiert, es sei denn das Titelblatt muss für Gaddafis Leiche freigemacht werden. Das ist schon nicht mehr Populismus, nur mehr desperate Ablenkungstaktik.

Um also auf die Frage zurückzukommen: All das zusammen hat einen sehr starken Eindruck hinterlassen, nämlich, dass es brodelt, und dass niemand mehr seriöse Vorhersagen über mehr als ein halbes Jahr machen kann. Das ist schon ein neues Gefühl.


"Europhobe haben Blut geleckt"

Premier David Cameron hat mit seinem Veto gegen die Änderung der EU-Verträge Brüssel gegen sich aufgebracht. Wie reagieren die britischen Medien und Bürger auf seinen Kurs?

Laut Meinungsumfragen hat dieses Verhalten den Tories zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder eine Mehrheit beschert. Ich kenne andererseits auch Leute, die sich aufgrund Camerons Verhalten für ihr Land regelrecht genieren, aber das ist wohl die untypische Reaktion.

Es gibt hier immer reichlich Publikum für patriotische Parolen. Den Leuten wird ja tagtäglich erzählt, dass die EU sie unglaublich viel Geld kostet und alles in Bürokratie erstickt. Schon zu Labours Zeiten wurde alles, was unpopulär war, als Resultat von EU-Verordnungen, umgekehrt alles Positive als die eigene Errungenschaft verkauft. Europafeindlichkeit ist daher mittlerweile Mainstream geworden, da gibt es noch eine Umfrage derzufolge die Hälfte aller Briten aus der EU aussteigen will, während es vor zehn Jahren noch 19 Prozent waren.

Ein wesentlicher Teil von Camerons Motivation war ja der Versuch, die Forderung nach einer Volksabstimmung zum EU-Ausstieg abzufedern. Er weiß natürlich, dass ein Ausstieg für Großbritannien jetzt eine Katastrophe wäre, nicht zuletzt für seine Freunde unter den Großgrundbesitzern, die reichlich Agrarsubventionen von der EU beziehen, aber er will sicher keinen Pro-EU-Mitgliedschaftswahlkampf führen. Ich glaube aber, dass seine Taktik, die Europhobie durch plakative Isolationspolitik zu kalmieren, nur nach hinten losgehen wird. Der Druck auf einen Ausstieg wird ansteigen, die Europhoben haben Blut geleckt.


"Kreditkarten wurden jedem nachgeworfen"

Die Einschätzungen, in welche Richtung sich die britische Gesellschaft aufgrund der wachsenden Kluft zwischen arm und reich hinbewegt, klingen mehrheitlich düster und beklemmend - etwa der aufrüttelnde Appell von Schauspieler Michael Caine an die Politik im Zusammenhang mit seinem Milieudrama "Harry Brown". Wie ist es Ihrer Meinung nach zu diesen Auswüchsen gekommen?

Mit der Deregulierung der City Mitte der Achtziger hat der große Goldregen begonnen, und in den mittleren Neunzigern hat sich die Explosion der Spitzengehälter auf alle anderen Wirtschaftszweige ausgebreitet, während gleichzeitig die realen Löhne der Unter- bis Mittelschicht seit den Sechzigern nicht mehr gestiegen, ja zum Teil sogar empfindlich gefallen sind.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Ende der Neunziger davon die Rede war, dass die Briten ihren CEOs (Vorstände, Anm.) mehr zahlen müssten, um mit New York mitzuhalten. Das war geradezu eine Frage des nationalen Prestige. Und dann begannen die Gehälter für Manager überall zu wuchern, sogar in Gemeindeverwaltungen haben Manager plötzlich dreimal soviel verdient wie Unterhausabgeordnete.

Das Entstehen dieser sozialen Ungleichheit wurde aber von genau derselben Individualverschuldung kosmetisch überdeckt, die direkt in die spätere Krise führte. Mit Kreditkarten, die einem nur so nachgeworfen wurden. Jeder Supermarkt konnte einem eine Kreditkarte verkaufen. Mit null Prozent Zinsen in den ersten drei Monaten. Das hat die Leute animiert, eine Karte nach der anderen zu bestellen, und niemand schien das zu stören.

Die Briten waren bezeichnenderweise schon in der Boom-Periode extrem hoch verschuldet, was Privatschuld anlangt. Nur so konnten der Konsum-Boom und der damit einher gehende scheinbare Wohlstand erzeugt werden. Jetzt, wo all das wegfällt, liegt die Kluft zwischen arm und reich frei wie eine offene Wunde.

Sie sprechen fließend Englisch und haben viele britische Kollegen, Bekannte, Freunde. Gibt es dennoch Momente, in denen Sie Verständnisgrenzen erleben?

Man sagt ja immer, Spione aus dem Ausland lassen sich am besten enttarnen, indem man sie nach Kinderliedertexten fragt. Aber dank meiner hier aufwachsenden Kinder bin ich auch auf diesem Gebiet mittlerweile ziemlich firm. Ich habe manchmal Probleme mit Glasgower Akzenten, aber nachdem mein derzeitiges Plattenlabel fast ausschließlich von Schotten betrieben wird, ist auch das kein großes Problem mehr. Telefonieren mit Call Centres in Newcastle ist sehr schwierig, aber dieses Problem haben auch geborene Südengländer. Und mein eigener Akzent ist von Tag zu Tag verschieden, von ärgerlich hörbar bis fast nicht vorhanden.

Was mir an anderen Europäern auffällt, ist dass sie glauben, besser Englisch zu können als sie es tatsächlich tun. Dann lassen sie sich auf Englisch im Fernsehen interviewen und kommen als die Dummen rüber. Das ist eine Sprache mit einer einfachen Struktur, aber sehr fein abgestimmten Tonalität, gerade im Informellen. Andererseits sind freundlich gesinnte Eingeborene endlos gnädig, was den Missbrauch ihrer Sprache angeht.


"Österreicher könnten höflicher sein"

Nach allem, was Sie in Großbritannien erfahren haben: Ist ihnen eine gewisse "Österreich-Nostalgie" vertraut? Bzw. gibt es etwas, dass Ihnen in Österreich fremd geworden ist, seit Sie in England leben?

Die Österreich-Nostalgie hat mich hin und wieder befallen, aber das Österreich, das ich da idealisiere, gibt es natürlich nicht mehr, oder hat es nie gegeben. Sonst wär ich ja auch nicht weggezogen. Und in Österreich überkommt mich auch immer gleich wieder England-Sehnsucht. Ich will aber nicht wie einer dieser selbstzufriedenen Auswanderer dastehen, die den Österreichern erzählen, was ihnen an ihrem Land auf den Geist geht. Das braucht wahrscheinlich niemand.

Höflicher und zuvorkommender könnten die Leute in Österreich sein, das stimmt aber schon. Es gab einmal eine Redakteurin bei der Berliner Zeitung, die hat sich ernsthaft um mich Sorgen gemacht, weil ich immer so auffällig gut gelaunt sei. Ich hab ihr erklärt, dass das nur der Einfluss der englischen Umgangsformen ist und kein Anzeichen gefährlich exzessiver Manie.


"Botschafter für Architektin Grete Schütte"

Als Sie 1997 nach London gingen, feierte die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky ihren 100. Geburtstag, die Sie in Ihrem vielgelobten Song "The Frankfurt Kitchen" würdigen. (Das Video dazu wurde unter anderem im New Yorker MoMa gezeigt, Anm.) Wie hat Sie die Begegnung mit ihr geprägt?

Man kann es gar nicht eine Begegnung nennen. Sie war einfach eine gute Freundin meiner Großmutter mütterlicherseits, die jetzt selbst schon auf die 92 zugeht. Die Schütte, und was man sich über sie erzählt hat, ist für mich eine Figur aus meinen verwaschenen Kindheitserinnerungen.

Meine Idee zu dem Song kam dementsprechend einfach aus dem Blauen heraus auf einer Zugfahrt, der Rhythmus der Schwellen hat mich an den Rhythmus ihres Namens erinnert. Das Video dazu sollte ja eigentlich einen Mangel des Songs korrigieren, der nur über ihre Küche spricht, während sie selbst ja dezidiert nicht nur darauf festgenagelt werden wollte. Mit dem etwas absurden Resultat, dass ich dann mit Gitarre um den Hals in New York im MoMA, im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe oder beim Ernst May-Fest in der Frankfurter Römerstadt dasteh und den Botschafter für Grete Schüttes unterbewertetes sonstiges Lebenswerk spiele.

Ihre "Erinnerungen aus dem Widerstand" hab ich übrigens erst später gelesen. Ich hatte lange Angst vor dem Buch wie vor allen Kriegs- und Gefangenschaftserinnerungen, aber es ist tatsächlich sehr empfehlenswert, spannend, menschlich und hat nichts von falschem Veteraninnenstolz an sich.

Interview: Ute Rossbacher


Album-Tipp Robert Rotifers neues Album "The Hosting Couple" ist kürzlich bei Edwyn Collins' Label AED erschienen - erhältlich bei www.aedrecords.com

Rotifer live in Wien Philiale: Free midnight album launch show, am 23. Dezember ab Mitternacht im Gartenbaukino Foyer


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