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"Auch hier bald Jugendliche auf der Straße"

ORF / Günther Pichlkostner

relevant Redaktion

Roland Adrowitzer: "Auch hier werden Jugendliche auf die Straße gehen!“

17.08.2011
ORF-Korrespondent und Großbritannien-Experte Roland Adrowitzer im Gespräch über die Aufstände in London: die tatsächlichen Gründe, die politische Reaktion, die Zukunft Europas.

Der Schock sitzt in Großbritannien immer noch tief – die Aufstände von Jugendlichen haben die britische Gesellschaft in ihren Grundsätzen erschüttert. Häuser wurden angezündet, Geschäfte geplündert, Menschen ermordet. Die Feinde kamen aus den eigenen Reihen: aus Reihen, die nicht nur von der Regierung, sondern auch von der Gesellschaft selbst jahrzehntelang vergessen wurden.

Anzeichen für Unruhen gab es schon länger, ist Dr. Roland Adrowitzer, ORF-Korrespondent und Großbritannien-Experte, überzeugt. Die tatsächlichen Ausmaße seien dann aber doch überraschend gewesen. Im Gespräch mit relevant-Autor Manuel Simbürger zieht Adrowitzer Bilanz: was die wirklichen Gründe für die Aufstände waren, wieso Cameron nicht anders handeln kann und - weshalb Jugendliche auch in Österreich auf die Straße gehen werden.


Wir scheinen in einer Zeit der Revolutionen zu leben – Ägypten, Tunesien, Griechenland, Spanien, jetzt London. Sehen Sie hier Parallelen?

Roland Adrowitzer: Absolut. In allen diesen Ländern waren die neuen sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter maßgeblich an den Revolutionen "beteiligt". Und alle Revolutionen wurden von Jugendlichen angeführt. Ich denke, das, was in der arabischen Welt geschehen ist, hatte eine große Vorbildwirkung – auf Jugendliche in ganz Europa. Jugendliche gehen jetzt auf die Straße, aus welchen Motiven auch immer.

Sind Krawalle tatsächlich die einzige Möglichkeit, mit der sich Jugendliche Gehör verschaffen können? Sagt das nicht auch einiges über die moderne Medienlandschaft aus?

Dieser Meinung bin ich nicht. Das, was in London passiert ist – Mord, Totschlag, Plünderei, Brandstiftung – waren eindeutig kriminelle Akte und sind nicht zu rechtfertigen. Polizeiliche Maßnahmen sind sicher nicht der einzige Weg, sich Gehör zu verschaffen. Das wäre eine zu einfache These.

Bieten die deutschsprachigen Medien ein korrektes Bild von der Lage in Großbritannien?

Ich würde sagen, ja. Was den ORF betrifft, auf alle Fälle, sonst hätte ich es nicht gemacht (lacht).


"Gebrodelt hat es schon lange"

Waren Sie von den Ausmaßen, die die Krawalle in London angenommen haben, überrascht? Angefangen hat es schließlich mit einem friedlichen Protest.

Ich war sehr überrascht. Keiner hätte sich gedacht, wie die Situation ausartet. Auch die britische Polizei hat die Lage anfangs falsch eingeschätzt, hatten die falschen – und zu wenige! – Einsatzkräfte. Keiner hätte sich diese Dimension des Aufstandes erträumen lassen. Ein britischer Sozialarbeiter eines betroffenen Viertels erzählte mir, dass er überrascht und verständnislos war, dass anfangs keine Polizei zu Hilfe kam. Sie waren schlicht und einfach mit der Situation überfordert.

Gebrodelt hat es in der Gesellschaft schon lange, das wusste auch jeder. Dieses Ausmaß aber war für alle wirklich sehr überraschend.

Anzeichen gab es also schon länger, dass es bald zu einer Art von Aufstand kommen würde?

Dass innerhalb der Jugendgangs "die Bombe explodieren" würde, war klar, aber nicht, dass gesamte Orte und Stadtteile davon betroffen sein werden.


"De-industrialisiertes Industrieland"

Man sagt, die wachsende wirtschaftlich-gesellschaftliche Schere sei der tatsächliche Grund für die Aufstände. Wie sehen Sie das?

Dies ist nur einer der Gründe. Das Hauptproblem ist, dass die britische Gesellschaft größere Klassenunterschiede hat als jede andere in Europa. Großbritannien kann man zudem mittlerweile als "de-industrialisiertes Industrieland" bezeichnen – Stahl oder Kohle gibt es in Großbritannien so gut wie nicht mehr. Das macht es natürlich für schlecht ausgebildete Jugendliche noch schwieriger, Jobs zu bekommen. Die Frustration wächst.

Als weiteren Grund sehe ich die Rivalitäten der einzelnen (ethnischen und religiösen) Gruppierungen gegen- und untereinander. Solch eine gesellschaftliche Vielfalt wie in Großbritannien gibt es sonst nirgendwo in Europa.

Und ja, natürlich hat auch die von Ihnen erwähnte wirtschaftlich-gesellschaftliche Schere, die immer größer wird, zum Aufstand beigetragen. Die oberen Zehntausend verdienen immer mehr, während die Unterschicht immer größer wird und chancenlos ist. Wenn es schon soweit gekommen ist, dass der eigene Premierminister sagt, das Volk wäre kaputt, dann ist einiges schiefgelaufen.


"Aufstände sind in ganz Europa denkbar"

In Österreich wäre also ein Aufstand in dieser Dimension nicht möglich?

In diesem Ausmaß nicht. Aber ich erwarte sehr wohl Demonstrationen von Jugendlichen in ganz Europa – man sieht es ja schon in Spanien, Portugal, Italien. Ich denke aber, dass diese Proteste friedlich verlaufen werden. Auch in Österreich werden Jugendliche bald auf die Straße gehen.

Wenn die wirtschaftliche Lage schlechter wird, wenn immer größere Gruppen das Gefühl haben, sie sind von Wohlstand und Zukunft vollkommen ausgeschlossen, dann sind Aufstände prinzipiell in ganz Europa denkbar, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie in London.

Kommen wir nochmals auf Großbritannien zurück. Ist jetzt überhaupt ein friedliches Miteinander zwischen den einzelnen Klassen noch möglich?

Momentan sind wir erst bei dem Schritt, dass mit massiver Polizeigewalt die Ordnung wieder hergestellt wird. Dies wird von allen politischen Gruppierungen unterstützt. Über Nacht ist es natürlich nicht möglich, alles wieder ins Reine bringen. Aber: In einem Jahr finden in London die Olympischen Spiele statt. Bis dahin muss die Ordnung wieder hergestellt werden!

Die Lage ist also immer noch angespannt?

Auf jeden Fall. Die harte Maßnahme gegen die Täter mag zwar momentan abschreckend wirken, aber auf Dauer ist dies natürlich keine Lösung.


"Cameron hat keine andere Wahl"

David Cameron wurde zum Teil stark wegen seiner harte Vorgehensweise gegen die Randalierer kritisiert. Hat er Ihrer Meinung nach richtig gehandelt?

Gegen Aufstände solchen Ausmaßes kann man nicht anders vorgehen. Er hatte keine andere Wahl. In Großbritannien wird sein Handeln diesbezüglich nicht kritisiert, im Gegenteil: Auch die Opposition steht hinter Camerons Handlungen. Wenn der Mob die Straße erobert, hat der Premierminister keine andere Wahl, als hart durchzugreifen. Ob es gesellschaftlich längerfristig das Richtige ist, wird sich zeigen, kurzfristig ist es aber die einzige Möglichkeit.

Apropos längerfristig: Wie werden sich die Aufstände auf die Regierung auswirken?

Die Regierung wird noch mehr unter Druck stehen als bisher. Sie ist ja angetreten, um dem gewaltigen Budget-Defizit Großbritanniens entgegenzuwirken. Mit dem großen finanziellen Schaden der Aufstände (mehrere Hundert Millionen, Anm.) wird dies natürlich erschwert. Da die Regierung in den nächsten fünf Jahren aber bestehen bleibt, komme was wolle, wird sie auch das überstehen.


"Für die Eskalation hat keiner Verständnis"

Letzte Frage: Wie reagierte die britische Bevölkerung auf die Aufstände?

Mit Schock. Und Unverständnis. Man versteht nicht, was die Randalierer davon haben, in der Nachbarschaft die Geschäfte zu plündern und Häuser anzuzünden. Existenzen wurden teilweise zerstört. Am Anfang hatte man Verständnis für den Protest gegen die Ermordung von Mark Duggan, dann reagierte man aber nur noch schockiert und fassungslos. Für die Eskalation hat keiner Verständnis.


Das Gespräch führte Manuel Simbürger; er ist freier Journalist und relevant-Autor.


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